von Zeit.los Magazin
20. November 2023
Tirols Winterextreme
Der große Schnee
Manchmal schüttelt Frau Holle ihre Kissen ganz besonders kräftig über dem Land aus. Extreme Niederschlagsereignisse, die im Winter den großen Schnee bringen, haben in Tirol regional unterschiedliche Ursachen.
Es ist inzwischen ausgesprochen selten, dass eine Jahreszeit kälter ausfällt als im Mittel.
Wetterprognosen: Von Bauernregeln zur modernen Meteorologie
Stirbt der Bauer im Oktober, braucht er im Winter keinen Pullover. Diese satirische Variante einer Bauernregel trifft wohl als einzige zuverlässig ins Schwarze. Ansonsten ist die Aufstellung von derartigen Regeln für das Wetter recht schwierig, überhaupt was mittel- und längerfristige Prognosen betrifft. Meteorologe Dr. Manfred Bauer, der die Kundenservicestelle der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik – kurz ZAMG genannt – in Innsbruck leitet, arbeitet nicht mit Bauernregeln, sondern vielmehr mit immer mehr Rechenleistung und immer umfangreicheren Daten, um einen zunehmend präzisen Überblick über die Wetterentwicklung zu bekommen.
Nun ist die Prognose des Wetters schon diffizil, jene der Klimaentwicklung aber noch komplexer. Einerseits aufgrund ungeheuer vieler, einander wechselseitig beeinflussender Variablen, andererseits hängt sie aber auch von unserem Verhalten und den Maßnahmen ab, die wir setzen. „Der Klimawandel ist in den letzten Jahren immer offensichtlicher geworden“, sagt Bauer. Das äußert sich in außergewöhnlichen Temperaturen auf der einen, in Rekordniederschlägen auf der anderen Seite.
Winterwetter in Tirol: Herausforderungen und Rekordereignisse
„Im Sommer und im Winter hat man es mit grundlegend anderen Phänomenen zu tun“, so der Experte, der die winterlichen Ereignisse grundsätzlich für meist gut vorhersagbar hält. In Bezug auf Tirol gilt es zu unterscheiden, ob sich an der Alpennord- oder der Alpensüdseite etwas zusammenbraut. Bauer nennt ein Beispiel: „Im Jahr 2019 gab es zehn bis 15 Tage lang eine Strömung aus Nord bis Nordwest, in die immer wieder Kaltfronten eingelagert waren. Trifft so eine Kaltfront auf ein Hindernis, konkret auf eine Gebirgskette, ist es üblicherweise so, dass sie dort die ganz großen Niederschlagsmengen bringt“, erklärt der Meteorologe. Diese Wetterlage hat den Alpennordrand entlang für Schneerekorde an manchen Messstationen gesorgt, zum Beispiel in Seefeld. „In Seefeld gab es damals in sieben Tagen sieben Meter Neuschnee“, weiß der Meteorologe. Passiert ist nicht viel, die weiße Pracht ist friedlich geblieben.
Die Zukunft der Meteorologie: Grenzen und Chancen der Wetterprognosen
Die Meteorologie ist vor allem durch Wettersatelliten und leistungsfähigere Computer prognostisch immer besser geworden. „Als ich in den 1990er-Jahren beruflich eingestiegen bin, konnte man das Wetter für heute, morgen und im besten Fall noch für übermorgen gut prognostizieren, heute sind genaue Vorhersagen oftmals für eine Woche und manchmal auch länger möglich“, sagt Bauer. Allerdings scheint man einen Plafond erreicht zu haben. Man wird also auch noch in einigen Jahrzehnten geduldig sein müssen, um zu erfahren, wie der Winter und ob, wo und wie viel Schnee es geben wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass Winter wie Sommer überdurchschnittlich warm werden, liegt aber aufgrund des Klimawandels mittlerweile bei 80 Prozent. „Wenn man mich fragt, sage ich immer, der Sommer oder Winter wird zu warm. Es ist inzwischen ausgesprochen selten, dass eine Jahreszeit kälter ausfällt als im Mittel“, weiß Bauer die Statistik auf seiner Seite. Auch wenn die schwierigen Winter in tiefen Lagen zunehmen dürften, so spricht doch einiges dafür, dass auch zukünftige Generationen den großen Schnee noch aus eigener Erfahrung erleben werden, mit all seinen Eigenschaften. Als stille weiße Pracht genauso wie in Gestalt der Lawine als zerstörerische Urkraft, die alles zermalmt, was sich ihr in den Weg stellt.
Mit der weißen Gefahr leben
So schön viel Schnee sein mag, so kann er auch durchaus bedrohlich werden. Im Alpenraum ist im Winter keine Naturgefahr ähnlich präsent wie die Lawine.
Ganz verhindern wird man Lawinenabgänge nie können, aber es gibt einige Ansätze, Lawinen besser zu verstehen und die Risiken zu entschärfen. Daran hat nicht zuletzt der Lawinenwarndienst Tirol wesentlichen Anteil. Rudi Mair ist das Gesicht, das in der Öffentlichkeit mit dem Thema Lawinen assoziiert wird. Seit mehr als 30 Jahren versieht der studierte Meteorologe und Glaziologe Dienst beim Lawinenwarndienst Tirol, seit fast 20 Jahren leitet er die Einrichtung.
Für Simulationszwecke steht uns heute immer mehr Rechenleistung zur Verfügung. Hat sich das auf die Lawinenprognostik ausgewirkt?
Rudi Mair: Im Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage in Reading sitzen hunderte Mathematiker, Physiker und Meteorologen und arbeiten daran, das Wetter immer besser vorauszuberechnen. Viele der erzielten Fortschritte hängen tatsächlich damit zusammen, dass die Rechner immer besser und schneller werden. Im gleichen Atemzug ist der Fortschritt in der IT zu nennen. Es bringt nämlich nichts, wenn sich Wetter und Lawinensituation besser und genauer prognostizieren lassen, man die Information aber nicht zum Anwender bringt. Allein durch das Smartphone ist die Sicherheit extrem gestiegen: durch bessere Prognosen und nachfolgend bessere Kommunikation.
Die meisten Leute wissen, dass Schnee weiss und kalt ist und man darauf Ski fahren kann. Schnee ist aber eine lebendige Materie.
Wie hat sich Ihre Arbeit durch die Verfügbarkeit wesentlich größerer Datenmengen verändert?
Als ich 1990 beim Lawinenwarndienst begonnen habe, gab es in Tirol keine einzige automatische Wetterstation. Jetzt gibt es über 200 davon, von denen jede einzelne 15 Parameter misst. Daraus ergeben sich allein schon mehr als 3.000 Werte alle zehn Minuten! Früher hatten wir zu wenig Daten, heute eigentlich fast schon zu viel. Die
Kunst besteht darin, sich aus der Datenfülle die relevanten Dinge herauszusuchen. Dafür brauche ich aber immer noch einen menschlichen Prognostiker, das kann der Computer derzeit nicht.
Werden Lawinenwarnstufen von Laien oft falsch interpretiert, indem etwa Stufe 2 (mäßig) noch als Freifahrtsschein gesehen wird?
Das wird definitiv falsch interpretiert. Auch Stufe 1 oder 2 sind Gefahrenstufen und heißen Lawinengefahr. Nur Stufe 0 würde bedeuten, dass überhaupt keine Lawinengefahr besteht. Gerade bei Stufe 2 passieren immer wieder Unfälle, weil die Menschen die Situation falsch einschätzen – etwa zu viert gleichzeitig in 40 Grad steile Hänge einfahren – und dabei eine Lawine auslösen. Die kritischste Stufe für uns ist aber die dritte. Wer sich bei Stufe 3 im alpinen Gelände bewegt, braucht jedenfalls lawinenkundliche Erfahrung.
Gibt es Expositionen, die statistisch gesehen gefährlicher sind als andere?
Man kann das nur ganz grob sagen. Im Hochwinter sind es eher die Nordseiten, die tendenziell gefährlicher sind, im Frühjahr eher die Sonnseiten. Ganz generell kann man das aber nicht sagen. Ich empfehle jedenfalls immer einen Blick in den Lawinenreport.
Winter am Hochplateau
Auch wenn es in der gesamten Region Seefeld und besonders in der Leutasch im Winter gerne viel Schnee hat, so braucht’s natürlich nicht überall Lawinenwissen.
Im Gegenteil. Beim Langlaufen, Winter(weit-)wandern oder Schneeschuhwandern entlang der ausgeschriebenen Wege lässt sich die Schönheit des Hochplateaus völlig gefahrlos erleben.
Winterbericht
Das zeit.los Magazin schreibt die schönsten Geschichten von Tirols Hochplateau: über seine Menschen, einzigartige Orte und alle Abenteuer, die man auf 1.200 Metern erleben kann. Das Magazin erscheint 2x jährlich – im Sommer wie Winter – und liegt gerne zur Entnahme auf.
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